Wie liest du eigentlich die Bibel? (Teil 6)

Bibel1690-5

Ich fürchte fast, dass besonders der letzte Abschnitt denn doch entmutigend gewesen sein könnte. Wenn man nicht einmal mehr der Sprache und dem üblichen Gebrauch von Begriffen mehr trauen kann, wie kann man dann überhaupt sicher sein, irgendetwas von der Heilsbotschaft richtig, d.h. heilbewirkend verstanden zu haben? Und wie stehe ich selbst da als ein Diener des Wortes in der Gemeinde? Die Antwort auf diese Zweifel ist verblüffend einfach:

Da du weißt, von wem du es gelernt hast

„Du aber bleibe in dem, was du gelernt hast und was dir zur Gewissheit geworden ist, da du weißt, von wem du es gelernt hast, und weil du von Kindheit an die heiligen Schriften kennst, welche die Kraft haben, dich weise zu machen zur Errettung durch den Glauben, der in Christus Jesus ist.“ (2.Tim 3,14-15).

Von wem habe ich gelernt? Als jemand, der in den 1980er Jahren in Wien zum Glauben kam, kann ich die Frage nur so beantworten: Von den Brüdern, Begleitern und Predigern einer mennonitisch geprägten evangelikalen Gemeinde in Wien. Das muss man vielleicht etwas näher erklären: Was heißt mennonitisch? Mennoniten sind nach dem niederländischen Täuferführer Menno Simons (1496-1561) benannt, und die Täuferbewegung insgesamt entstand 1525 in Zürich. Ich denke, es war 1989 als Bruder Sepp Enzenberger eine Vortragsreihe über die Reformation und die Täuferbewegung hielt, welche mich nachhaltig geprägt hat, auch wenn ich diese Saat über mehr als ein Jahrzehnt verkümmern ließ. Erst Jahre später, auf der Suche nach Wegen zu einem einfachen Leben, knüpfte ich wieder an das damals Gehörte an und begann, konsequenter an diese Bewegung anzuknüpfen.

Als ich geschrieben habe „mennonitisch geprägte evangelikale Gemeinde“, deutete ich bereits an, dass ich die Lehre und Praxis dieser Gemeinde eigentlich mit deren Wurzeln vergleichen sollte. Von wem haben die Prediger dieser Gemeinde gelernt? Und vom wem dieser? Vergleicht man die Gemeinde von heute mit den Lehren Menno Simons und der frühen Täuferbewegung, so ist der Unterschied sehr, sehr groß: Die Wehrlosigkeit (Christen wehren sich nicht mit Gewalt), die Friedfertigkeit (Christen gehen nicht zum Militär), die Absonderung von der Welt (und ihrer Politik, ihren gottlosen Vergnügungen, ihrem unmoralischen Leben), und das klare Bewusstsein, durch einen gehorsamen und anhaltenden Glauben gerettet zu werden, wich der lutherisch geprägten evangelikalen Lehre einer vergleichsweise billigen Gnade, welche uns nichts mehr abverlangt und kaum Konfliktfelder mit der Welt, in der wir leben, erzeugt.

Sollte ich da in dem bleiben, was ich gelernt habe? Oder sollte ich nicht vielmehr fragen: Was wurde denn ursprünglich gelehrt? Im Grunde hatte ich nämlich zwei sehr widersprüchliche Lehrer: Einerseits Reste mennonitischer Überzeugungen, andererseits ein vorwiegend lutherisches Heilsverständnis, vor allem dessen falsches Verständnis von Gnade, Werken und Glaube (siehe Teil 5 dieser Serie).

Sich die Lehrer aussuchen?

Daraus ergibt sich aber ein Problem, nämlich unsere fleischliche Neigung, sich Lehrer nach dem eigenen Gusto auszusuchen. Paulus warnt: „Denn es wird eine Zeit kommen, da werden sie die gesunde Lehre nicht ertragen, sondern sich selbst nach ihren eigenen Lüsten Lehrer beschaffen, weil sie empfindliche Ohren haben; und sie werden ihre Ohren von der Wahrheit abwenden und sich den Legenden zuwenden.“ (2.Tim 4,3-4).

Guten Gewissens kann ich aber sagen, dass mein Fleisch die Täuferbewegung sich nicht als Lehrer aussuchen würde, denn diese Entscheidung machte mein Leben alles andere als einfacher. Wenn es nach mir ginge, würde ich lieber nicht lehren, dass man nach einer Scheidung sich entweder mit dem Partner versöhnt oder ledig bleibt und eine Wiederheirat ausgeschlossen ist (vgl. 1.Kor 7,10-11). Mit dieser Lehre bereite ich nicht nur anderen große Schmerzen, sondern auch mir selbst als Betroffenen. Einfacher wäre es anders. Gerne würde ich es mir ersparen wegen der Frage des Kopftuchs (1.Kor 11,2-16) als eng, gesetzlich und von vorgestern angefeindet zu werden. Ich würde es den Schwestern lieber ersparen (und mir die Konflikte damit), als es in der Furcht Gottes lehren und einfordern zu müssen. Persönlich fasziniert mich die Politik und ich hätte 1000 gute Ideen für die Gesellschaft, und doch gebietet mir Gottes Wort, mich davon abgesondert zu halten und mich als Fremdling ohne Bürgerrecht in dieser Welt zu begreifen (1.Petr 1,17). Bevor mir die Notwendigkeit eines gehorsamen Lebens bewusst wurde sündigte ich teils sogar recht leichtfertig, was mich heute erschrecken lässt – und ich beobachte dasselbe fleischliche Verhalten unter meinen evangelikalen Freunden. Nein, nie würde ich mir die Täuferbewegung als Lehrer aussuchen, weil es meinen eigenen Lüsten entgegenkäme.

Die Täuferbewegung überzeugte mich, weil sie von allen reformatorischen Bewegungen die ist, welche am glaubwürdigsten und konsequentesten an der apostolischen Lehre angeknüpft hatte. Das wird sehr gut dokumentiert in David Bercots Buch „Zurück zum Start“, welches auch maßgeblich dazu beigetragen hat, mir die Augen zu öffnen. Denn es geht gar nicht um die Täufer, sondern um die unveränderliche Lehre der Apostel, auf der die Gemeinde aufgebaut ist (vgl. Eph 2,20), und die wir in aller Treue festhalten müssen (Apg 2,42). Denn die Lehre der Apostel ist die Verwirklichung des Auftrags des Herrn Jesus an diese: „So geht nun hin und macht zu Jüngern alle Völker, und tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehrt sie alles halten, was ich euch befohlen habe.“ (Mat 28,19-20). Wir sehen darin den Herr Jesus, dem alle Macht im Himmel und auf Erden verliehen ist, als einen König und Gesetzgeber, dessen Worte wir zu befolgen haben: „Denn der Herr ist unser Richter, der Herr ist unser Gesetzgeber, der Herr ist unser König; er wird uns retten!“ (Jes 33,22), wie auch Jakobus bekräftigt: „Einer nur ist der Gesetzgeber, der die Macht hat, zu retten und zu verderben.“ (Jak 4,12).

Die Lehre der Apostel findet sich zuallererst natürlich im Neuen Testament – und tatsächlich habe ich mich sehr bemüht, diese im Verlauf der Artikelserie immer wieder transparent zu machen. Würden wir tatsächlich alle Schriftstellen zu einem Thema zusammenlesen und ernst nehmen, würden wir auch dort ankommen, was die Apostel lehrten. Wir würden etwa nie auf die Idee kommen, Gnade sei ein bedingungsloses Geschenk oder der Glaube passiv. Wir haben aber unsere theologischen Brillen auf, und obwohl es mir sehr bewusst wurde, was das bedeutet, war es für mich alles andere als einfach, die evangelikale Brille beim Lesen der Bibel abzulegen. Ich will sie aber auch nie wieder aufsetzen, seitdem ich weiß, vom wem ich lernen soll und wer mich bis dahin gelehrt hatte. Der Unterschied ist in dieser Artikelserie hoffentlich sehr deutlich geworden.

Die Selbstprüfung an der Lehre der Apostel

Wir haben einen Schatz an Schriften aus den ersten 200 Jahren, die jedermann verfügbar und zugänglich sind: Die „Bibliothek der Kirchenväter“ wurde mir zu einem unverzichtbaren Prüfstein meiner eigenen Auslegungen. Wenn einem einmal bewusst wurde welche Irrtümer man mit dem Brustton der Überzeugung vertreten und gelehrt hat, wird man sehr demütig. Warum setze ich in diese Schriften ein relativ großes Vertrauen (kein absolutes, weil sie ja auch nur Menschen waren)?

Paulus gab dem Timotheus folgende Anweisung: „Und was du von mir gehört hast vor vielen Zeugen, das vertraue treuen Menschen an, die fähig sein werden, auch andere zu lehren.“ (2.Tim 2,2). Gehen wir das der Reihe nach durch:

  • Es geht Paulus nicht nur um seine Briefe oder die niedergeschriebene Lehre. Er lehrte weit mehr und weit ausführlicher, als er es zu Papier bringen konnte oder wollte. Seine Reden in der Apostelgeschichte sind in wenigen Minuten gelesen – tatsächlich hat er wohl eine Stunde und länger geredet. Die Schriften des Neuen Testaments sind also eine Zusammenfassung der Lehre, aber sie setzen die mündliche Lehre voraus (vgl. 2.Thess 2,5).
  • In der schriftlichen Kommunikation gehen zusätzlich viele entscheidende Aspekte der Kommunikation verloren: Tonfall, Mimik und Körpersprache, welche uns helfen zu verstehen, was der Apostel (bzw. die Apostel, denn das gilt für alle) besonders betonen wollten oder wo vielleicht ein Schuss Ironie mitschwang.
  • Im persönlichen Umgang mit den Aposteln konnte man außerdem Fragen stellen und im Gespräch vertiefen, was unklar war. Niemand hatte zu Paulus wohl einen so engen Kontakt wie Timotheus, an den dieser Vers gerichtet war. Wenn jemand Paulus wirklich gut verstanden hatte, dann er.
  • Petrus hingegen warnt ausdrücklich, dass die Briefe leicht missverstanden werden können: „In ihnen ist manches schwer zu verstehen, was die Unwissenden und Ungefestigten verdrehen, wie auch die übrigen Schriften, zu ihrem eigenen Verderben.“ (2.Petr 3,16). Aber auch bei Petrus ist nicht immer alles leicht zu verstehen.
  • Die volle apostolische Lehre wurde deshalb mündlich und schriftlich weitergegeben und sollte auch so bewahrt werden (vgl. 2.Thess 2,15).
  • Dazu sollte Timotheus treue und zuverlässige Männer suchen, die fähig sind, diese Lehre (a) selbst richtig zu verstehen, (b) durch ihr eigenes Leben darzustellen, was ein Grundprinzip apostolischer Lehre ist (vgl. Phil 3,17), und (c) andere zu lehren, die wiederum diese Qualitäten aufwiesen. Hier geht es ganz zentral um die Qualität der Lehrvermittlung, auf die größtes Augenmerk gelegt wurde.

Wenn ich andere bemüht bibeltreue Christen darauf anspreche, bekomme ich meistens reflexartig die Antwort, die Kirchenväter seien ja nicht inspiriert. Frage ich zurück, von wem sie denn gelernt haben, antworten sie in der Regel spontan: „Mein Glaube gründet sich alleine auf der Bibel.“ Das stimmt aber nicht, auch wenn sie es ehrlich so meinen, denn die Art, wie wir die Bibel lesen und verstehen, wurde uns von jemandem beigebracht. Wenn schon zwischen Martin Luther und Menno Simons (um nur einen der Täufer zu nennen) so gewaltige Unterschiede bestehen, müssen wir dieser Frage gründlicher nachgehen.

Sind die Kirchenväter inspiriert? Ja und nein. Sind wir inspiriert? Haben wir den heiligen Geist empfangen? Predigen und lehren wir unter Seiner Leitung? Das ist eine wichtige Frage, denn Petrus ermahnt gerade uns als Lehrer des Wortes Gottes: „Wenn jemand redet, so rede er es als Aussprüche Gottes; wenn jemand dient, so tue er es aus der Kraft, die Gott darreicht, damit in allem Gott verherrlicht wird durch Jesus Christus.“ (1.Petr 4,11). Haben wir diesen Anspruch an unseren Dienst? Es ist diese Inspiration, welche die Grundlage des Gehorsams der Gemeinde ist: „Gehorcht euren Führern und fügt euch ihnen; denn sie wachen über eure Seelen als solche, die einmal Rechenschaft ablegen werden.“ (Heb 13,17). Wenn wir nicht im Auftrag und der Vollmacht Gottes reden, dann braucht die Gemeinde uns auch nicht zu gehorchen.

Zudem gebrauchen viele evangelikale Christen Kommentare in ihrer Bibelauslegung, weil sie selbst merken, nicht alles zu verstehen. Und da beantwortet sich die Frage, von wem sie denn gelernt haben, beispielsweise mit folgender Liste an Predigern: Charles Haddon Spurgeon, John Wesley, William MacDonald, John MacArthur, John Nelson Darby, William Kelly, Henry Allen Ironside, Matthew Henry … fällt uns etwas auf? Die meisten Kommentatoren, die heute geschätzt und empfohlen werden, sind Engländer oder Amerikaner mit mehr oder weniger calvinistischen bzw. reformatorischen Überzeugungen. Betrachten wir diese als inspiriert? Das würde sofort verneint werden – aber warum werden sie dann empfohlen und geschätzt? Warum folgt man ihren Auslegungen? Ach ja: Weil sie besondere vom Geist Gottes begabte Lehrer waren (bzw. wir sie für solche halten)!

Dieselbe Gabe Gottes, die man für den eigenen Dienst so nötig hat, die man in den Kommentaren anerkennt, muss doch auch den frühen Kirchenvätern zuerkannt werden. Das ist eine Form der Inspiration, wenn sie auch zu keinen Neuoffenbarungen führt oder uns als Personen unfehlbar macht. Wir sind auch gar nicht dazu berufen, die Grundlagen der Gemeinde zu legen, sondern diese nach bester Treue und Gewissenhaftigkeit unverfälscht zu bewahren, zu leben und weiterzugeben.

Die frühen Kirchenväter hatten nun einige entscheidende Vorteile den modernen Kommentaren gegenüber:

  • Da alle mündlich Lehre mit der Zeit verblasst oder verfremdet wird, ist die Reinheit der Lehre dort am besten gewährleistet, wo sie (a) noch nahe am Ursprung war, sowohl zeitlich als auch räumlich, und (b) noch viele lebten, die kritisch beurteilen konnten, ob das, was gelehrt wurde, auch der ursprünglichen Lehre entsprach.
  • Sie gebrauchten die biblische Sprache in ihrem Alltag und kannten die tatsächlichen Wortbedeutungen weit besser als unsere Wörterbücher, die zwar eine lange Liste an Bedeutungen bieten, uns aber im konkreten Fall keine eindeutige Antwort geben, welche der Bedeutungen jetzt die zutreffende ist. Auch grammatisch sind sie uns weit überlegen.
  • Sie kannten die Kultur und damit auch alle Anspielungen oder Hintergründe zur apostolischen Lehre; zum Beispiel ist unser Verständnis von Haus oder Familie aufgrund unserer Lebenssituation anders als ihres. Die Lehre der Apostel über die Familie steht jedoch auf dem Hintergrund der Antike und kann nur vor diesem Hintergrund richtig verstanden werden.
  • Sie lebten in Gemeinden, die von den Aposteln vor erst kurzer Zeit gegründet worden sind, wo die Praxis des Gemeindelebens noch mit der ursprünglichen Praxis zumindest weitestgehend übereinstimmte (auch das veränderte sich, aber eher langsam).
  • Es gab damals die Fülle an Spaltungen in der Christenheit noch nicht, welche die Schriftauslegung in jede nur erdenkliche Richtung verzerrt und verbogen hat. Die Einheit der Christen in allen wesentlichen Fragen des Glaubens und Lebens in den ersten 200 Jahren ist bemerkenswert.

Damit verwerfe ich moderne Kommentare nicht pauschal, aber ich weiß, von wem John MacArthur oder William MacDonald gelernt haben, und dass es bei ihren Lehrern gravierende Unterschiede zur apostolischen Lehre gibt. Dennoch kann und darf ich die Gabe nicht verwerfen, die Gott auch ihnen gegeben hat, sondern soll wie die Beröer alles prüfen, ob es mit der biblischen Lehre übereinstimmt. Dazu benötige ich eine gute und solide Kenntnis der ursprünglichen Lehre, die sich anzueignen auch nicht von selbst geschieht. Auch darin muss man angeleitet werden, muss man Zeit und Fleiß investieren, um am Ende hinreichende Gewissheit zu erlangen, um freimütig lehren zu können.

Ich will also wissen, von wem ich gelernt habe; und ich bin bereit jederzeit meine Auslegungen ihrem Urteil zu unterwerfen, mich korrigieren zu lassen, indem ich vergleiche, rückfrage und mich so selbst kontrolliere in dem, was ich als Lehre von mir gebe und veröffentliche. Gerade weil ich nicht unfehlbar bin, ist das notwendig und bin ich auch dankbar für Hinweise, wo ich etwas übersehen habe.

Ein Beispiel: Das Gesetz erfüllen

Ein Beispiel mag das verdeutlichen. Der Herr Jesus sagte in der Bergpredigt: „Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen sei, um das Gesetz oder die Propheten aufzulösen. Ich bin nicht gekommen, um aufzulösen, sondern um zu erfüllen!“ (Mat 5,17). Ein paar Gedanken vorab:

  • Das Wort „erfüllen“ ist zumindest im Deutschen mehrdeutig und führt deshalb zu verschiedenen Auslegungen dieses Verses.
  • Im Neuen Testament wird sonst nirgends auf den Vers Bezug genommen; kein Apostel zitiert und erklärt dieses Wort des Herrn.

Wie gehen wir damit um?

  • Manche sagen, dass das Gesetz und die Propheten vollständig durch Jesus erfüllt wurden, und das ganze Alte Testament dadurch für uns obsolet sei (also doch irgendwie wieder aufgelöst, was dem Vers eigentlich widerspricht). Das ist eine sehr oberflächliche Betrachtung.
  • Andere meinen, dass „Erfüllung“ so etwas wie „Abschluss“ bedeutet und alles, was als „Zeremonialgesetz“ (also die Opfer und der Tempel) auf Christus hingewiesen hatte, abgeschlossen sei, der Rest aber noch buchstäblich gelte (als „Moralgesetz“). Alle staatskirchlichen Theologien gehen im Wesentlichen davon aus, weil sie ein „christliches“ Gesetz für ihre „christlichen“ Nationen brauchen.
  • Ganz gewagt ist die Auslegung, der Herr habe das Gesetz für uns erfüllt (gemeint ist: befolgt), damit wir es nicht befolgen müssen, weil wir das angeblich gar nicht können. Vertreter dieser Lehre sind u.a. Watchman Nee oder Andrew Farley, die der sogenannten „Hyper Grace Bewegung“ zuzuordnen sind. Die Idee ist also ein „stellvertretender Gehorsam“ Christi, der uns zugerechnet würde.

Was kann man aus der Schrift zur Klärung der Frage beitragen? Erstens einmal sollte man alle Texte betrachten, die das Verhältnis der Christen zum Gesetz beschreiben … und da stellen wir bald fest, dass es nicht so einfach ist, denn manches wird buchstäblich gelehrt (z.B. Blutverbot oder Eltern ehren), manches gilt ganz offensichtlich nicht mehr buchstäblich (z.B. Sabbate und Festtage), anderes hat eine geistliche Bedeutung erhalten (z.B. Beschneidung im Fleisch wurde zur Beschneidung des Herzens). Zudem gehen Christen heute mit dem AT oft recht willkürlich um, wenn z.B. verboten wird, sich tätowieren zu lassen, aber der Bart für einen Mann nicht zur Pflicht gemacht wird (beides im selben Abschnitt in 3.Mose 19) – schauen wir uns dieses Beispiel kurz an:

„Ihr sollt nichts mit Blut essen. Ihr sollt weder Wahrsagerei noch Zauberei treiben. Ihr sollt den Rand eures Haupthaares nicht rundum abschneiden, auch sollst du den Rand deines Bartes nicht beschädigen. Ihr sollt keine Einschnitte an eurem Leib machen für eine [abgeschiedene] Seele, und ihr sollt euch keine Zeichen einätzen! Ich bin der HERR.“ (3.Mose 19,26-28).

  • Dass wir nichts mit Blut essen dürfen, wird in Apg 15,28-29 als notwendig bestätigt. Unter Christen ist das heute aber umstritten.
  • Zauberei gehört nach wie vor zu den Werken des Fleisches, die uns vom Reich Gottes ausschließen (Gal 5,20). Darüber herrscht unter Christen Einigkeit.
  • Das griechische Alte Testament übersetzt die Stelle mit dem Haupthaar so, dass Männer keinen Zopf tragen sollen, was sich in die Stelle fügt, dass langes Haar eine Schande für Männer ist (1.Kor 11,14-15). Andererseits ist es nicht ganz klar, was für ein Haarschnitt hier verboten ist. Klar ist lediglich, dass diese Anordnung fast allen Christen egal ist.
  • Männer sollen den Rand ihres Bartes nicht zerstören, also keineswegs rasieren und wahrscheinlich nicht einmal stutzen. Die meisten Christen gehen heute darüber hinweg.
  • Das Trauerritual der Heiden, sich in der Haut zu ritzen, hat sich erledigt, weil das in unserem Umfeld ohnedies unüblich ist. Wahrscheinlich würden Christen es aber auch heute ablehnen, da der Tod für sie kein Trauerfall ist (vgl. 1.Thess 4,13-14).
  • Sich Zeichen einzuätzen, also Tätowierungen, sind ebenso klar verboten, doch heutzutage, wo Tattoos modern sind, finden auch immer mehr Christen nichts mehr dabei, sich tätowieren zu lassen.
  • „Ich bin der HERR“ – ist immer noch der Grund, der uns genügen sollte Ihm zu gehorchen.

Was denken wir über diese Willkür im Umgang mit Gottes Geboten? Es zeigt uns vor allem eines: Wir haben keine solide Unterweisung erhalten, wie (nicht ob) das alttestamentliche Gebot für uns Christen verbindlich ist.

Ein Hinweis ist das Wort, das der Herr für „erfüllen“ gebraucht. Das habe ich mir als nächstes angeschaut. „Pleroo“ bedeutet so viel wie vollmachen und zur Fülle oder auf das Vollmaß bringen. Es bedeutet weder etwas beenden oder abschließen, noch etwas befolgen; wenn dann nur indirekt, indem wir das Ziel des Gesetzes vollständig erfüllen, indem wir es tun. Ich dachte also darüber nach, ob das Gesetz des Mose noch unvollkommen und mangelhaft sei und durch Christus erst zu seiner vollen Aussage und Geltung gebracht wurde. Tatsächlich sehe ich dafür zwei Hinweise in der Schrift: Einerseits macht der Herr Jesus klar, dass die Anordnung zur Scheidung im Gesetz des Mose wegen unserer Herzenshärtigkeit gegeben wurde, aber Gottes eigentlichen Willen nicht entspricht (vgl. Mat 19,7-9). Zweitens macht der Herr Jesus gerade in der Bergpredigt mit Seinem „ich aber sage euch“ klar, dass der Wille Gottes noch weit über den Buchstaben des Gesetzes hinausreicht und auf die Einstellung unserer Herzen zielt, nicht bloß auf das rechte Verhalten (Mat 5,21-48). Ich kam also zu dem Schluss, dass alle oben genannten Auslegungen zu Mat 5,17 falsch sein könnten, und dass der Herr die volle Geltung des Gesetzes gemäß dem vollen Willen das Vaters gemeint haben könnte, wobei von Fall zu Fall zu prüfen ist, ob ein Gebot zudem auch wörtlich zu befolgen ist oder nicht mehr gemäß dem Buchstaben.

Das Problem dabei: Das sei ja nur meine Meinung und Auslegung, wird man einwenden, und warum sollte gerade ich mehr Erkenntnis haben als andere vor und neben mir? Das ist eine legitime Frage, denn niemand sollte mir aufgrund meiner Erkenntnisse glauben. Ich bin nicht maßgeblich. Wichtig ist nur, ob meine Lehre der ursprünglichen apostolischen Lehre entspricht. Also ging ich auf die Suche nach frühchristlichen Auslegungen zu Mat 5,17:

Irenäus schreibt: „Die Naturgebote des Gesetzes aber, durch die der Mensch gerechtfertigt wird, und welche schon vor der Gesetzgebung diejenigen beobachteten, die durch den Glauben gerechtfertigt wurden und Gott gefielen, die hat der Herr nicht aufgehoben, sondern ausgedehnt und erfüllt, wie aus seinen Reden offenbar ist. „Es ist zu den Alten gesagt“, sprach er, „du sollst nicht ehebrechen. Ich aber sage euch, daß jeder, der ein Weib ansieht, um sie zu begehren, schon in seinem Herzen mit ihr die Ehe gebrochen hat“. Und wiederum: „Es ist gesagt: Du sollst nicht töten. Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder ohne Grund zürnt, wird des Gerichtes schuldig sein“. Und ferner: „Es ist gesagt: Du sollst nicht falsch schwören. Ich aber sage euch: Ihr sollt überhaupt nicht schwören. Eure Rede sei aber: Ja, ja, nein, nein“. Und anderes derart. Alle diese Anweisungen enthalten aber nicht eine Aufhebung oder Auflösung der früheren, wie die Markioniten faseln, sondern die Erfüllung und Ausdehnung, wie er selber sagt: „Wenn eure Gerechtigkeit nicht mehr überfließen wird, als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, dann werdet ihr in das Himmelreich nicht eingehen“. Worin soll aber das Mehr bestehen? Erstlich muß man nicht bloß an den Vater, sondern auch an seinen nunmehr geoffenbarten Sohn glauben; denn dieser ist es, der den Menschen in die Gemeinschaft und Einheit mit Gott einführt. Dann muß man es nicht allein sagen, sondern auch tun — jene aber sagten bloß und taten nicht — und sich nicht bloß enthalten von schlechten Werken, sondern auch von der Begierde danach. Damit lehrte er aber nichts dem Gesetze Entgegengesetztes, sondern erfüllte es und pflanzte uns seine Gerechtigkeit ein. Nur das wäre gegen das Gesetz gewesen, wenn er seinen Jüngern etwas geboten hätte, was das Gesetz verbietet. Wenn er aber befiehlt, nicht bloß das vom Gesetz Verbotene zu vermeiden, sondern auch die Begierden danach, dann steht er nicht im Gegensatz zum Gesetz, wie wir gesagt haben, und löst nicht das Gesetz, sondern erfüllt es, dehnt es aus, erweitert es.“ (Gegen die Häresien IV,13,1).

Es ist dies die ausführlichste und grundlegendste Betrachtung dieses Verses, die ich fand. Andere betonen ebenso die Herzenshaltung oder die Liebe, oder sie sagen, dass Christus (in Seinem Wesen und Wandel) die Erfüllung des Gesetzes (und damit unser Leitbild) sei. Stark ist in Irenäus Worten auch, dass alles Reden von einer Auflösung des Gesetzes, als ob wir dem Gesetz nicht mehr zu folgen hätten, „Markionitisches Gefasel“ sei. Die Markioniten waren eine gnostische Sekte des zweiten Jahrhunderts, die zwischen einem „bösen Gott des Alten Testaments“ und dem „liebenden Gott des Neuen Testaments“ unterschieden und die Schriften des AT völlig verwarfen und das NT auf die Paulusbriefe und das Lukasevangelium reduzierten – klingt fast bekannt, oder?

Darum will ich wissen, von wem ich gelernt habe (und immer noch lerne)

Blicke ich auf all das zurück, wird es mir mehr und mehr bewusst, wie wichtig es ist zu wissen, von wem man gelernt hat oder lernt; wo man in die geistliche Schule geht, denn es sind viele falsche Lehrer und Propheten unterwegs, die alle sehr einleuchtend oder angenehm erscheinen. Die eigene „Intuition“ ist nicht immer der beste Wegweiser; die Idee „allein der Bibel“ zu folgen aufgrund unserer meist unbewussten theologischen Prägungen eine Illusion.

ABER: Seit ich bei den Alten in die Schule gehe, habe ich neues Vertrauen in meine (durch Gottes Geist verliehene) Fähigkeit gewonnen, die Bibel zu lesen und zu verstehen, um sie richtig zur Anwendung zu bringen. Daraus resultierte wieder eine große Freude am Wort Gottes und viel Freimütigkeit im Glauben und in der Verkündigung, denn ich weiß, von wem ich gelernt habe.

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